Teil 2 von 4

Heinz Homuth: Da war der Platz knackevoll, und dann verlangten wir nach Ulbricht oder Grotewohl, und dann kam ein gewisser Herr Selbmann, der war Minister für Bergbau oder so was ähnliches und: „ Kollegen..." und dann schrieen die gleich: „Du bist nicht unser Kollege", - „... ich kann euch mitteilen, die Anordnungen zur Normerhöhung sind zurückgenommen worden!" Also, das war unser erster Sieg.
Aber nun kamen ja die politischen Forderungen, wir wollen freie Wahlen und so weiter und so weiter, und einer von unseren Fliesenlegern, der rief dann auf zum Generalstreik für den 17. Juni. 7 Uhr Strausberger Platz.


Auch im Westen hatte man diesen Aufruf gehört.

Ernst Scharnowski, Westberliner DGB-Vorsitzender im RIAS: Lasst sie nicht allein, tretet daher der Bewegung der Ost-Berliner Bauarbeiter, BVGler und Eisenbahner bei und sucht eure Strausberger Plätze überall auf.

Das war die Stimme des Rundfunks im amerikanischen Sektor. West-Berlin. Der RIAS wurde in der ganzen DDR gehört.
Aber nicht von allen.

Marianne Berge: Am 16. abends war ich in einer Aktivtagung im ehemaligen Metropoltheater.
An die Reden selber kann ich mich nicht mehr genau erinnern, ich weiß nur dass Walter Ulbricht sagte, dass Fehler gemacht worden sind und dass sie korrigiert werden. In dieser Tagung habe ich nicht den Eindruck gehabt (und Leute, die neben mir saßen, haben diesen Eindruck auch nicht gehabt, -  wir haben uns unterhalten, als wir rausgingen), dass es zu einer größeren Streikbewegung kommen würde am nächsten Tag.


Die Partei hatte die Gefahr nicht erkannt. Aber die russischen Genossen. Sitz der Sowjetischen Militäradministration in Karlshorst: Berliner Kreml.

Von hier gehen die Berichte des Hochkommissars Semjonow nach Moskau. Am Abend des 16. Juni - meldet er - sei die Lage unübersichtlich geworden. Das Stalindenkmal an der Stalinallee sei mit Steinen beworfen worden. West-Berliner seien nach Ost-Berlin eingedrungen und hätten versucht, mit Straßensperren und umgestürzten Autos ein Chaos auszulösen. 500 Banditen hätten das Gaswerk angegriffen. Alles sei vermutlich vom Westen aus geplant.

Aus den Erinnerungen Semjonows:
"Moskau reagierte sofort. Chruschtschow vertrat die Meinung, die auch andere Mitglieder des Politbüros teilten, der `Tag X´ stehe bevor, und der Westen teste nach Stalins Tod, wie weit er gegenüber der UdSSR gehen könne. In der Nacht zum 17. Juni 1953 weckte mich das Dröhnen der in Ostberlin einfahrenden Panzer."

17. Juni morgens. Stahlwerk Hennigsdorf.
Die Belegschaft hat RIAS gehört und weiß vom Streik der Bauarbeiter.

Ingrid Eckhardt: Ja und dann gingen wir aus dem Haus, um zu der Versammlung zu gehen. Aber der Strom der Leute, die von überall kamen, der Strom, der ging woanders lang, und ich sage zu irgend jemandem: „Ja, wo gehen wir denn überhaupt hin?" Und der sagte: „Ja, ich weiß auch nicht" - und jeder lief mit. Da kamen die Stahlwerker mit diesen Schürzen und den großen Schuhen und so ging der ganze Pulk  über die Havelbrücke. Ja, inzwischen hatte man realisiert: man geht nach Westberlin - das war klar; aber warum und weshalb und überhaupt - mir nicht in dem Moment. Die Grenzen waren ja im Prinzip offen, aber das war so mit Stacheldraht abgetrennt, und die Stahlwerker trampelten alles runter mit diesen großen Schuhen, und der Zug zog dann also durch Tegel durch. Und in Tegel schmissen die Leute dann so alles aus'm Fenster, was sie hatten, Blumen, Kuchen, Obst, und alles war aufgeregt und freute sich, und so sind wir dann immer gerade aus.

Hennigsdorf liegt nordwestlich von Berlin. Die Streikenden überschritten ungehindert die Stadtgrenze und zogen durch Tegel und Wedding, französischer Sektor, immer geradeaus Richtung Mitte. 30 Kilometer. Der französische Stadtkommandant hielt sich `raus.

Bei Bitterfeld. Sachsen-Anhalt. Am frühen Morgen, während die Hennigsdorfer durch Berlin ziehen, macht sich ein Forstbeamter auf den Weg in die Kreisstadt. Er ist als Zeuge vor Gericht geladen.

Heinz Hildebrandt: Das war ein fantastischer Sommertag wenn man so will. Die Sonne fiel so herrlich durch das Küchenfenster hin, und  ich drehe noch mal Nachrichten an  und höre, dass in Berlin nun doch Demonstrationen im Gang waren, und dass vermutet wird, dass sich das auf den mitteldeutschen Raum ausbreitet. Ja, ich habe gesagt, was geht dich das an, du bist Oberförster, lass die mal machen, was, und bin dann mit meiner Frau mit meiner Dienst-AWO,  also Motorrad,  nach Bitterfeld gefahren und hatte dann aber vor, nach Mosigkau zu fahren,  um mir dort den Park und das Schloss anzugucken mit der phantastischen Rembrandtsammlung.

Es wurde nichts mit Mosigkau heute. Auch die Gerichtsverhandlung fiel aus. Er kam mit seinem Motorrad nicht nach Bitterfeld hinein. Die Volkspolizei hatte die Straßen gesperrt.

Heinz Hildebrandt: Da habe ich mein Motorrad abgestellt und bin dann mit meiner Frau zu Fuß ins Zentrum der Stadt gegangen. Und haben wir dann miterlebt, wie die Chemiearbeiter aus dem chemischen Kombinat Bitterfeld unter Führung eines gewissen Otmar heranmarschiert kamen. Und dann kam ´ne nächste Gruppe aus Kreppin und ´ne andere aus  Wolfen von Agfa.

Die Agfa-Werke Wolfen waren seit Kriegsende ein sowjetischer Betrieb. Später hießen sie ORWO. Heute eine Industrieruine.

Wolfgang Schaefer: Dann kam plötzlich der Ruf: „Die Werkstätten marschieren schon, schließt euch an!" Und so sind wir  dann durch das Werk bis zum Gebäude 041, das ist am Eingang des Werksgeländes, dort versammelten sich ein paar Tausend Arbeitnehmer - so sagt man heute - und es fand eine Diskussion statt. Die Direktoren waren auf den Balkon getreten, es gab Zurufe hin und her, und dann die Aufforderung, schickt ein paar Leute, mit denen wir dann verhandeln können. Und es sind dann 4-5 nach oben gegangen, und die waren nicht vorbestellt, die waren nicht vorbestimmt, man hat nicht mal Vorgespräche geführt, sondern man stand in der Menge drinnen, und jemand sagte: „Du kannst reden, geh du da mit hoch", oder „du kannst uns am besten vertreten". Ich meine, aus so einem Kollektiv heraus, aus so einer Werkstatt sucht man sich natürlich den, der die Werkstatt vertreten könnte, Forderungen vertreten könnte. Und dem hat man denn dies gesagt, und der hat's gemacht in Erwartung, dass ihm nichts passiert.

Bei Agfa streikten 98% der Belegschaft. Nur wenige blieben, im Einverständnis mit den Streikenden, bei den Maschinen, die man ohne Schaden nicht abstellen kann. die anderen zogen nach Bitterfeld. Versammlung auf dem Platz der Jugend.

Heinz Hildebrandt: Dort hat ein ehemaliger Lehrer, der Herr Fiebelkorn,  der an und für sich der Initiator war der ganzen Streikgeschichte Bitterfeld, ´ne zündende Ansprache gehalten, die fand also gleich Begeisterung bei der Bevölkerung, es wurden dann dort die bekannten Forderungen vorgetragen: Freie Wahlen und Vereinigung der beiden deutschen Staaten.

Die beiden Bitterfelder Streikführer: stehend Paul Othma, sitzend Wilhelm Fiebelkorn.

Wilhelm Fiebelkorn: Wir wollten die Einheit Deutschlands, wir wollten freie Wahlen, demokratische Wahlen. Mehr nicht.

Wolfgang Schaefer: Plötzlich gab es ein  Getümmel in meiner unmittelbaren  Nähe. Da hatte sich irgendjemand zu erkennen gegeben, der Funktionär war. Und von oben vom Wagen rief einer dieser Streikführer: „Tut ihm nichts. Wir bleiben friedlich!" Und es tat sich zu meiner Überraschung eine Gasse auf, von 2 Meter Breite etwa, und der Mann konnte wirklich ganz friedlich den Platz verlassen.

Heinz Hildebrandt: Na ja, diese rund 10-12 Tausend Menschen, die klatschten nun natürlich Beifall und dann wurde zum Schluss das Deutschlandlied abgesungen. Und ich muss sagen, das war ein bewegender Augenblick, und wir haben natürlich die erste Strophe denn mitgesungen und bei den meisten kullerten die Tränen - bei mir auch.

Nach der Kundgebung wird das Rathaus besetzt, das 1921 von kommunistischen Arbeitern schon einmal gestürmt worden war. Damals allerdings im Kugelhagel. Wilhelm Fiebelkorn, ehemals Seemann, wird Sprecher der Streikbewegung.

Wilhelm Fiebelkorn: Und dann sagte ich so, das Kreisstreikommitee setzt sich ja aus den Arbeitern der einzelnen Abteilungen der Werke zusammen, das schlage ich vor, die sollen dann das Kreisstreikkommitee gründen. Und da haben die mich dann zu ihrem Sprecher gewählt, und so bin ich Streikführer geworden. Und so haben wir dann Telegramme an die vier Hohen Kommissare gesandt. Ein Original ist noch da - wissen sie das? Ich war auch erstaunt.

Gleich weitergeleitet an den Minister für Staatssicherheit Zaisser: Das Telegramm der Bitterfelder Streikführung an die Regierung der DDR. Punkt 1: Sofortiger Rücktritt der Regierung, die durch Wahlmanöver an die Macht gekommen ist.

Berlin, Haus der Ministerien.
Das Gebäude wird ab 8.45 Uhr von kasernierter Volkspolizei abgeriegelt.
Eine Versammlung wie am Tag zuvor soll verhindert werden. Demonstranten werden auseinandergetrieben.

Walter Müller: Wir hatten einen Karabiner, an dem konnte man ein Bajonett aufklappen. Es war sehr bedrohliches Gerät und sollte ja auch Respekt einflößen, aber niemand wusste, dass wir überhaupt nichts in diese Waffe geladen hatten. Es war eine sehr beunruhigende Situation für uns, denn wir hatten noch einige Tausend Menschen vor uns, und im Prinzip ist es gut gewesen, dass niemand wusste, wie schlecht wir in dieser Situation eigentlich ausgesehen haben.

Der Zug der Hennigsdorfer erreicht die Sektorengrenze zwischen West- und Ost-Berlin auf der Chausseestraße.

Ingrid Eckhardt: Es war eine Menschenmenge, also, unübersehbar. Und man hat auch immer geguckt, ob man jemanden kennt oder wiedertrifft. Weil ich hatte alle verloren von meiner Abteilung, die Leute, und habe aber meinen Freund - ich hatte ´nen Freund - den habe ich dann dort zufällig wiedergetroffen. Der war schon über 20, ich war ja erst 17, und der hat mich immer so'n bisschen versucht zu beschützen.

Auf der Oberbaumbrücke überqueren Arbeiter aus Oberschöneweide und Treptow die Spree. Sie sind ein Stück durch Kreuzberg gegangen, amerikanischer Sektor.

Klaus Gronau: Neben mir lief ein großer Bauarbeiter, mindestens 1,90 groß, und in der aß eine Stulle, in der anderen Hand hatte er eine Blechbüchse, wie man sie immer so hatte zum Dienst, bei der Arbeit, und der war auch sehr - wie soll ich sagen - zornig.

Wolfgang Becker: Ich bin dann raus, bin rübergerannt zur Spitze des Demonstrationszuges und habe dann zu denen gesagt: „Ich möchte gerne mitmachen, ich möchte mitdemonstrieren, aber ich bin aus Westberlin". „Komm her", - rums haben sie mich gleich in die Mitte genommen und dann ging das die Stalinallee runter dann mit den ganzen Texten, und dann sagte einer aus der dritten Reihe - Mensch, ist doch n'en Funkturm, lass den doch mal den Anreißer machen hier: „Wir wollen keine SED, wir wollen keine Volksarmee, wir wollen Freiheit, Recht und Brot, sonst schlagen wir die Bonzen tot!"

Friedrichstraße, zwischen neun und zehn. Für die Aufständischen gibt es keine Sektorengrenze mehr. Aber die westlichen Kameraleute bleiben auf ihrem Terrain. Bewegte Bilder des Aufstands in Berlin kennen wir nur so - von Westberliner Seite gedreht.

Die Grenze war damals noch keine Mauer, sondern ein einfaches Geländer.

Marianne Berge: Und dann gab es im Ministerium die Aufforderung, dass die Kollegen - die männlichen Kollegen des Ministeriums -  zum Agitationseinsatz hinausgehen und die Frauen drinnen bleiben. Und wir haben dann die Tür verrammelt und ich habe dann an den Fenstern geschaut, was sich draußen abspielt.

Martin Degen: Ich bin rausgegangen, als männlicher Kollege, das Parteiabzeichen am Revers, also das war für mich überhaupt keine Frage, mich als das darzustellen, wer ich bin. Ja, und da standen so mehr in der zweiten Reihe einige und  sagten:  „Mensch der hat ein Bonbon an" - das war das Parteiabzeichen - „hat keinen Zweck, geht weg". Das heißt, sie haben weniger in das Gespräch eingegriffen, als vor allen Dingen die zu steuern, die mit uns sprachen, und dann zu sagen, also der ist kommunistisch verblödet, lass den stehen, wir gehen weiter. Also sobald sie erst den Mund aufgemacht haben, wusste ich schon, woher sie kamen.

Aus West-Berlin, meint er. Provokateure. DIE zetteln Schlägereien mit den Funktionären an.

Mancher Funktionär, der auf die Straße geschickt worden war, diskutierte lieber nicht, verbarg sein Parteiabzeichen und ging einfach mit.

Werner Barfus: Wir haben uns dann dort angeschlossen, - was sollten wir machen, wir fingen doch nicht an und wollten diskutieren, was sollten wir auch diskutieren, fragten auch nicht, wohin sie gehen wollen, doch, da sagten sie, in welche Richtung, und wir können ruhig mitmarschieren, Richtung Leipziger Straße.

Martin Degen: Es kam uns eine FDJlerin entgegengelaufen, die blaue Bluse aufgerissen, die blutete, ja, wir vermuteten, es war eine Mitarbeiterin des Zentralrates der FDJ, der ja Unter den Linden seinen Standort hatte, und vielleicht so im Abstand von 30-50 Metern eine johlende Menge dahinter. Wir haben ihr gesagt: „Sieh zu, dass du wegkommst" -  und haben uns dazwischen gestellt, und das missfiel natürlich diesen sogenannten Demonstranten. Sie haben uns dann also angegriffen, haben auf uns eingeprügelt. Nun war aber jeder bemüht hier, wollte unbedingt uns verprügeln, dadurch haben sie sich gegenseitig behindert, und wir sind, wenn ich so sagen darf, mit ein paar blauen Flecken, mit wenig Schädigung davongekommen.

In der Friedrichstraße wird ein Parteifunktionär von der West-Berliner Polizei  -verhaftet? Gerettet?

11.15. Zwei junge Männer holen die Rote Fahne vom Brandenburger Tor.

Karlshorst. Ulbricht und Grotewohl sind bereits in Sicherheit im Berliner Kreml. Bei Hochkommissar Semjonow.

Ständiges Telefonieren mit den tonangebenden Leuten in Moskau. Jeder von denen hat seine eigenen Auffassungen. Anruf Lawrenti Berija: „Warum spart Genosse Semjonow mit Patronen?"

Aus Semjonows Erinnerungen: „Um elf erhielten wir Weisung aus Moskau, das Feuer zu eröffnen, Standgerichte einzurichten und zwölf Rädelsführer zu erschießen."

Zwölf.

Der Staatsanwalt der sowjetischen Truppen Smirnow weigerte sich, den Erschießungsbefehl ausführen zu lassen, worauf ihn Semjonow verhaften und sofort mit dem Flugzeug nach Moskau abtransportieren ließ. Der erste „Rädelsführer", Willy Göttling, arbeitsloser Kraftfahrer aus West-Berlin, wurde früh am 18. standrechtlich erschossen.

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